AgileNews "Fehlerkultur als Wettbewerbsvorteil", Teil 6
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Wirksamkeit agiler Arbeitsweisen ist das Prinzip, durch frühes Feedback so schnell und kostengünstig wie möglich zu scheitern. Das Credo "Fail fast, fail cheap" wurde dabei, vermehrt auch im Management, populärer. Während bis vor wenigen Jahren (zumindest außerhalb der Startup-Welt) noch kaum Bewusstsein für die Bedeutung einer positiven Fehlerkultur für den Unternehmenserfolg herrschte, ist das Thema mittlerweile in jeder Organisation und nahezu auf allen Ebenen angekommen.
Auslöser für diesen Wandel sind stark veränderte Marktbedingungen, die sich in wachsenden Anforderungen an die eigene Innovationsfähigkeit und immer kürzer werdenden Lieferzyklen widerspiegeln. Durch die erhöhte Bedeutung dieser Themen veränderten sich die Prioritäten im Kontext der Produktentwicklung. Voraussetzung für eine Innovation ist dabei ein gewisses Maß an Experimentieren und Scheitern, um marktbezogene und technische Unsicherheiten so schnell und so kostengünstig wie möglich zu reduzieren.
Diese Entwicklungen erklären die immer stärker werdende Verbreitung agiler Vorgehensmodelle, die Fortschritt und Innovationsfähigkeit über das Vermeiden von Scheitern stellen. Parallel dazu beobachten wir vermehrt Missinterpretationen der Bedeutung einer positiven Fehlerkultur. So werden "Agilität" und die eigene "positive Fehlerkultur" oft als Argument für nachlässiges Arbeiten oder Eingehen unnötiger Risiken missbraucht. Der Exzellenzanspruch agiler Arbeitsweisen, die - korrekt eingeführt - zu systematisch qualitativ besseren und stabileren Lösungen führen, geht dadurch verloren.
Die Herausforderung bei der Entwicklung der eigenen Fehlerkultur besteht darin, ein innovationsförderliches Maß an Scheitern zuzulassen, ohne den eigenen Qualitätsanspruch systematisch zu verwässern. Je nach Kontext kann das Scheitern dabei erforderlich sein, während es in anderen Situationen bewusst keine Option sein darf.
Wenn wir von Fehlerkultur sprechen, meinen wir den Umgang mit Fehlern und deren Folgen in einer Organisation. Demzufolge hat also jede Organisation eine Fehlerkultur, auch wenn der Umgang mit Fehlern dysfunktional ist. Welche Fehlerkultur in einer Organisation vorherrscht, hängt dabei von unterschiedlichen Faktoren wie Organisationsstruktur und (Zusammen-)Arbeitsweisen, individuellen Kompetenzen und verwendeten Werkzeugen ab. Neben den offensichtlichen Faktoren sind aber auch die gelebten Werte und die vorherrschende Führungskultur von entscheidender Bedeutung. Eine neue Fehlerkultur lässt sich insofern nicht einfach verordnen, durch gezielte Veränderungen der Abläufe in der Organisation jedoch positiv beeinflussen.
Um die richtige (im Sinne der passenden) Fehlerkultur zu finden, ist es von zentraler Bedeutung die eigene Fehlertoleranz zu reflektieren. Wie viel Scheitern kann akzeptiert werden bzw. wann hilft Scheitern sogar bei der weiteren Entwicklung? Betrachten wir in diesem Zusammenhang zwei Szenarien:
Szenario 1: Komplexe Produktentwicklung
Wenn es um das Entwickeln neuer, nicht standardmäßig am Markt verfügbarer Services und Produkte geht, erfolgt die Entwicklung vor dem Hintergrund hoher marktbezogener und/ oder technologischer Unsicherheit. Letztlich geht es in der Entwicklung komplexer Produkte darum, so schnell wie möglich zu lernen, um Unsicherheiten so früh wie möglich zu reduzieren. Scheitern bzw. Irrtümer werden dabei als Lernchancen gesehen, auf deren Basis die weitere Entwicklung aufbaut. Ein gewisses Maß an Scheitern wird hierbei einkalkuliert und in der frühen Phase der Produktentwicklung durch gezielte Experimente sogar bewusst provoziert – getreu dem Motto “Fail fast, fail cheap”. Fehler systematisch zu vermeiden ist in diesem Szenario also eher kontraproduktiv, da dadurch auch Lernen vermieden wird.
Aber: Scheitern stellt nur beim ersten Mal eine Lernchance dar und erfordert jeweils eine entsprechende Reflexion. Mehrmals denselben Fehler zu wiederholen oder unreflektiert Fehler zu provozieren, erzeugt keinerlei Mehrwert.
Szenario 2: Betreiben sicherheits-/ lebenskritischer Umgebungen
Ganz anders sieht es in sicherheits- und lebenskritischen Umgebungen aus. Während Fehler in der komplexen Produktentwicklung einkalkuliert und so früh wie möglich durch Testen provoziert werden, geht es in sicherheitskritischen Umgebungen darum, Fehler partout zu vermeiden. Während Fehler in der Produktentwicklung relativ kostengünstig sind, kosten Fehler in derartigen Umgebungen im Zweifel wirtschaftliche Existenzen oder sogar Leben.
In diesem Szenario lautet die Maßgabe deshalb vielmehr "Failure is not an option".
Der richtige Umgang mit Fehlern kann sich innerhalb eines Unternehmens je nach Kontext unterscheiden. Problematisch wird es, wenn die gelebte Fehlerkultur nicht (mehr) zum Kontext passt bzw. im jeweiligen Kontext sogar erfolgsverhindernd wirkt. Eine solche Entwicklung kommt beispielsweise dann zustande, wenn die angestrebte Innovationsfähigkeit eine höhere Fehlertoleranz erfordert, als es die gelebte Fehlerkultur zulässt. Ein anderes Beispiel wäre die (Re-)Integration einer Innovation aus einem Inkubator in das Portfolio der Mutterorganisation. In beiden Fällen ist die vorhandene Fehlerkultur nicht mehr zweckmäßig. Im Folgenden haben wir Symptome für zwei Fallsituationen aufgeführt, in denen der Umgang mit Fehlern im Rahmen der Wertschöpfung dem Unternehmenserfolg entgegenwirkt:
Fall 1: zu restriktive Fehlerkultur
Fall 2: Laissez-faire Fehlerkultur
In der Praxis lässt sich häufig sogar eine Kombination beider Fälle beobachten: Aufgrund fehlenden Feedbacks im Entwicklungsprozess werden Funktionalitäten geliefert, die die eigentlichen Kundenprobleme nicht oder nur mangelhaft lösen. Dadurch werden Nachlieferungen erforderlich, die aufgrund vertraglicher Verpflichtungen unter enormem Zeitdruck umgesetzt werden müssen. Der dadurch entstehende Aktionismus erhöht seinerseits den Druck auf die Entwicklung und gefährdet die Qualität sämtlicher Liefergegenstände. Weitere Tests finden aufgrund der engen zeitlichen Planung nur noch eingeschränkt statt. Ergebnis dieser Kombination wäre in diesem Beispiel eine noch nicht optimal an die Kundenwünsche angepasste Funktionalität in einer verminderten Qualität.
Der hier geschilderte Fall bietet an sich die Chance daraus zu lernen und Anpassungen vorzunehmen. Diese Chance zu nutzen, erfordert allerdings eine Fehlerkultur, in der die Fehlentwicklungen konstruktiv aufgearbeitet werden. Ohne eine solche Fehlerkultur ändert sich nichts an der eigentlichen Vorgehensweise, das hier geschilderte Vorgehen wird zum neuen Standard: Scheitern wird zum Normalfall.
Aus wirtschaftlicher Sicht führt diese Entwicklung zu verlängerten Lieferzyklen, was wiederum die eigene Wettbewerbsfähigkeit schwächt. Die Folge davon ist, dass die Risikotoleranz steigt und unvalidierte Geschäftshypothesen ihren Weg in die Entwicklung finden. Das Risiko steigt, wieder und wieder im ganz großen Stil zu scheitern.
Wenn Sie Ihre Organisation anhand der aufgeführten Symptome wiedererkennen, besteht dringender Handlungsbedarf. Wenngleich die gelebte Fehlerkultur nicht direkt gesteuert werden kann, ist sie dennoch positiv beeinflussbar. Durch folgende Maßnahmen lassen sich Impulse setzten, die sich positiv auf die gelebte Fehlerkultur Ihrer Organisation auswirken können:
Die richtige Fehlerkultur zu entwickeln kostet je nach Ausgangslage Zeit und Mut, kann aber einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil bedeuten. Richtig angewandt, lassen sich durch die richtigen Hebel Blockaden lösen und die eigene Innovationsfähigkeit erheblich steigern. Um Fehlentwicklungen als solche zu erkennen, ist in den meisten Fällen eine externe Sicht erforderlich. Dabei braucht es einen Partner, der ganzheitlich denkt und Ihre Organisation in ihrer Breite und Komplexität versteht. Hier gehen wir gerne unverbindlich in den Dialog.
Alexander Popp, Consultant
Christian Braun, Senior Expert